Genau genommen fing alles lange vor dem Firmenjubiläum an. Rosi hatte die Idee mit dem Buch – sie hat ständig so geniale Ideen, und dafür bewundere ich sie, seit wir zusammen eingeschult wurden.
„Wir schreiben ein Kochbuch“, verkündete sie eines Abends, als wir erschöpft, aber glücklich von einer Wohltätigkeitsveranstaltung heimkehrten, auf der für die Modernisierung eines Kinderkrankenhauses gesammelt wurde.
Unsere Spezialität des Tages waren Holundertörtchen. Ein Nachbar hatte uns gestattet, seine Holundersträucher abzuernten, und seine Großzügigkeit klebte an jeder einzelnen Beere, die sich in der Buttercreme befand. Bei jedem Ei, das ich zum Teig gab, dachte ich an meine Tochter Lea, ein gesundes, fröhliches Kind. Ich warf ein wenig Mutterliebe mit in die Rührschüssel, wo sie zwischen den Eigelben zerfloss.
Liebe und Großzügigkeit – die perfekte Mischung.
Und wir hatten durchschlagenden Erfolg damit. Es kamen viel mehr Spendengelder für das Krankenhaus zusammen, als sich der Chefarzt jemals hätte erträumen lassen. Und zur allgemeinen Überraschung erklärte der Oberbürgermeister, bei dem ich dreimal mit meinem Tablett voller Holundertörtchen haltmachte, die Stadt werde ihren Zuschuss zu dem Projekt um eine beträchtliche Summe erhöhen.
„Wir schreiben alles auf“, sagte Rosi nun. „Unsere besten Rezepte, mit allen Tricks und Raffinessen. Dieses Buch werden uns die Leute aus den Händen reißen. Das wird ein Bestseller.“
Kurzgeschichte
Lammspieße auf Couscous
Es ist für Autoren nicht leicht, ein Buch bei einem Verlag zu veröffentlichen. Damit Verlage dem wirtschaftlichen Druck standhalten können, publizieren sie zunehmend Bücher, die sich voraussichtlich sehr gut verkaufen – ungeachtet der Qualität. Für unseren Kurzgeschichtenband „Moodcooking – Aus dem Suppentopf der Gefühle“ erhielten Elke Rathsfeld und ich unzählige Absagen. Wohlgemerkt keine Standardabsagen, sondern persönlich formulierte Briefe, in denen uns die Lektoren versicherten, dass wir wundervolle Texte geschrieben hätten, diese aber vermutlich kein Mensch lesen wolle. Die Geschichten seien – man glaubt es kaum – zu anspruchsvoll.
In einem Fall war die Absage besonders bitter, da der Kontakt über eine Literaturagentin hergestellt worden war, die uns große Hoffnungen gemacht hatte. Unsere Enttäuschung war riesig – und ich setzte mich hin und verarbeitete sie literarisch. Das Ergebnis ist die letzte Geschichte in „Moodcooking“, das wir dann übrigens als Selfpublisher herausbrachten.
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Rache ist süß, sagt der Volksmund. Ich finde allerdings, dass Rache ein sehr hässliches Wort ist. Es klingt nach Niedertracht und Bösartigkeit. Das hat nichts mit dem zu tun, was Rosi und ich getan haben. Wir wollten einfach nur eine Art ausgleichender Gerechtigkeit für das Unrecht erhalten, das uns widerfahren war. Und ich finde, das ist uns auch gut gelungen.
Rosi und ich haben uns vor fünf Jahren mit einem Cateringservice selbstständig gemacht. Seitdem kochen und backen wir auf Bestellung für große Feiern, kleine Feiern, offizielle Anlässe und Privatpartys. Unser kleines Unternehmen läuft gut, wir können nicht klagen. Besonders gern denke ich an das hundertjährige Firmenjubiläum des Verlags Kampmann & Hoffe zurück. Es zählt eindeutig zu den Höhepunkten unserer Karriere.
Die Leute glauben immer, wir hätten so großen Erfolg, weil wir viel Wert auf Qualität legen und ständig neue, ungewöhnliche Rezepte kreieren. Natürlich spielt das auch eine Rolle. Aber der wahre Grund für unseren Erfolg ist die Magie, die unsere Kunden aus jedem noch so kleinen Törtchen, jedem winzigsten Stück Brot oder Fleisch herausschmecken.
„Welche Magie?“, fragen Sie nun vielleicht und ziehen erstaunt die Augenbrauen hoch.
Na, Magie eben. Der kleine Zauber, den wir jederzeit zum Leben erwecken können, wenn wir nur wollen. Wussten Sie zum Beispiel, dass die Gefühle, mit denen Sie kochen, in all Ihren Speisen stecken und sich beim Essen auf Ihre Gäste übertragen?
Sie ziehen Ihre Augenbrauen noch ein Stückchen höher und zweifeln an meinem Verstand? Ja, das hat Axel Klinger von Kampmann & Hoffe auch getan. Und es ist ihm nicht gut bekommen, das kann ich Ihnen versichern.
Pizza Salami – 3
In dieser Woche würde Robert nicht verreisen, sondern zuhause bleiben. Er hatte nicht den Mut gefunden, eine Reise zu buchen. Daher kaufte er am Freitag, seinem letzten Arbeitstag, nicht nur eine Pizza Salami und eine Pizza Thunfisch, sondern jeweils zwei von jeder Sorte. Außerdem kamen noch eine Pizza Hawaii, eine Vier Jahreszeiten und eine Spinatpizza mit Feta dazu. Langsam schob Robert seinen Einkaufswagen durch die Gänge zum Brotregal, wo er zum ersten Mal an diesem Tag aus dem Tritt kam. Das Golden Buttertoast, das er immer kaufte, war aus. Nun hatte er die Wahl zwischen Vollkorntoast oder American Sandwich-Toast, dessen Scheiben sehr weiß und sehr groß waren. Robert zögerte. Unsicher griff er nach einer Packung Vollkorntoast, doch das sah wahnsinnig gesund aus. Robert legte die Packung zurück.
»Robert Krämer?«
Eine Frauenstimme, die von links kam, riss ihn aus seinen Überlegungen. Als Robert irritiert den Kopf drehte, sah er neben seinem Einkaufswagen einen anderen Wagen stehen und dahinter die blonde Karin aus der Buchhaltung.
»Hallo«, sagte Robert unsicher, weil ihm Karins Nachname nicht mehr einfiel. Karin musterte ausgiebig seine Einkäufe:
»Kriegen Sie Besuch?«, fragte sie.
»Warum?«
»Na, wegen all der Pizzen.«
Robert erfasste mit einem schnellen Blick das frische Gemüse in Karins Wagen, Tomaten, Auberginen, ein Bund Suppengrün, Zwiebeln, die neben Äpfeln, Eiern, Milch, Joghurt, Reis und Cornflakes lagen. Er schluckte. Robert stand hier mit nichts als sieben Kartons voller Tiefkühlpizza, von denen eine ekelhafter als die andere nach künstlichen Aromen und billigen Zutaten schmeckte. Dieses widerliche Fertigessen bildete die Eckpfeiler seines Urlaubs. Samstag Salami, Sonntag Thunfisch, Montag Spinat. Robert wusste nicht, was er sagen sollte.
Erneut schluckte er und murmelte fast trotzig: »Ich esse gerne Pizza«, bevor er seinen Wagen weiter schob, weg aus Karins Blickfeld.
»Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende«, rief Karin ihm hinterher. Er drehte sich noch einmal um und ihr freundliches Lächeln ermutigte ihn, zu sagen:
»Ich habe Urlaub.«
»Oh, wie schön. Dann genießen Sie Ihre freien Tage.« Karins Lächeln schien noch herzlicher zu werden. Robert spürte, wie sich etwas in ihm zusammenzog, wie ein heftiger Schmerz durch seine Brust zuckte, und er hastete ohne eine weitere Antwort davon.
Pizza Salami – 2
Freitags kaufte Robert ein. Toastbrot, Erdbeerkonfitüre und Tiefkühlpizza. Eine Pizza Salami für den Samstag und eine Pizza Thunfisch für den Sonntag. Unter der Woche nahm er sein Mittagessen in der Kantine der Firma ein, aber am Wochenende musste er sich selbst versorgen. Dann setzte er sich mit seiner Pizza vor den Fernseher und ließ sich berieseln, während er mechanisch Bissen um Bissen in den Mund schob, ohne richtig zu schmecken, was er da eigentlich aß. Jeden Mittwochabend ging Robert mit seinem Nachbarn Badminton spielen. Jeden Samstag putzte er seine Wohnung. Sonntags ging er joggen und später ins Kino.
An diesem Freitag war jedoch alles anders, denn Robert hatte eine Woche Urlaub vor sich. Diese Tage gehörten für ihn zu den schlimmsten des Jahres. Nur sein Geburtstag und Weihnachten waren noch schlimmer. Und Mariannes Geburtstag. Dabei wusste Robert nie, was ihn mehr schreckte: die freien Tage daheim zu verbringen oder mutterseelenallein zu verreisen. An fremden Orten war die Einsamkeit oft besonders unerträglich. Robert sah all die glücklichen Paare und Familien um sich herum, er sah wunderschöne Natur und kunstvolle historische Baudenkmäler und fühlte sich dabei verlorener denn je. Er verspürte das brennende Verlangen, all diese Eindrücke mit Marianne zu teilen, sich mit ihr zu freuen, mit ihr zu lachen.
Doch Marianne war nicht da. Sie hörte ihm nicht zu, sie antwortete ihm nicht, sie schenkte ihm weder ihr zauberhaftes Lächeln noch hakte sie sich bei ihm unter und sagte mit ihrer warmen, fröhlichen Stimme:
»Nun, mein Süßer, wo wollen wir denn heute essen gehen? In diesem kleinen Restaurant unten am Markt, wo sie diese umwerfende Entenbrust in Orangensauce haben?«
Spätestens jetzt musste Robert sich zwingen, nicht die Augen zu schließen, weil er sonst alles wieder vor sich gesehen hätte: die Lavendelfelder in der Provence, die gewundenen, kleinen Gassen zwischen den alten Häusern, das Restaurant am Marktplatz mit den karierten Decken auf den Tischen, die im Schatten vor dem Haus standen, Marianne, die mit sichtlichem Genuss ihre Entenbrust verspeiste, und er, Robert, der voller Zärtlichkeit ihr von der Sonne gerötetes Gesicht betrachtete und im Augenblick vollkommenen Glücks einem Impuls folgend ihre Hand ergriff und fragte:
»Marianne, möchtest du mich heiraten?«
Ihre selige Antwort, der Chef de Cuisine, der ihnen einen eisgekühlten Champagner brachte und mit ihnen anstieß, und ach, diese unfassbare Weite und Wärme in Roberts Herzen, als er Marianne küsste.